Videocast, Podcast und Textzusammenfassung vom Gespräch zwischen Birgit Neyer und Frank Wältring zur Zukunft der lokalen Wirtschaftsförderung
„Wie schaffen wir es, im ländlichen Raum eine nachhaltige Transformation anzustoßen und auch die Wirtschaftsförderung neu zu denken?“, ist die wesentliche Frage des Gesprächs zwischen Birgit Neyer und Frank Wältring. Birgit Neyer ist Geschäftsführerin der WESt mbH, der Wirtschaftsförderung des Kreises Steinfurt. Frank Wältring ist Partner der Beratungsfirma Mesopartner. Beide glauben, dass das Thema der nachhaltigen Transformation im ländlichen Raum und in der Wirtschaftsförderung stärker verankert werden muss.
Das Gespräch lässt sich als Videocast, Podcast und im folgenden als zusammengefasste schriftliche Quintessenz finden.
Frank Wältring (FW): Wir wissen, der Wandel beginnt in den Städten und Dörfern. Wie bekommen wir das Thema „nachhaltige Innovationsförderung“ in die traditionelle Wirtschaftsförderung hinein?
Birgit Neyer (BN): Es tut sich was. Ein Berater brachte es vor kurzem bei einem Gespräch auf den Punkt: „Das Thema Ökologie ist die neue Digitalisierung.“ Ich sehe es genauso. Hier liegen die Zukunftspotenziale für unsere Unternehmen und riesige Märkte mit Nachfrage. Wenn man das Thema als Innovationsprojekt angeht, erreichen wir auch die Unternehmerinnen und Unternehmer. Hier gibt es viele noch nicht genutzte Chancen.
FW: Wird das Thema denn innerhalb von Unternehmen und in Wirtschaftsförder-einrichtungen schon so wahrgenommen? Werden die Innovationspotenziale hier schon gesehen und gesucht?
BN: In meiner Region mache ich die Erfahrung, dass kleine und mittlere Unternehmer hier besonders sensibel und aufgeschlossen sind. Die Geschäftsführer und -führerinnen haben eine enge Mitarbeiterbindung, wohnen häufig in den Orten, wo auch ihr Betrieb angesiedelt sind. Sie spüren den Wertewandel in der eigenen Belegschaft und bei jungen Mitarbeitern. Gerade jüngere Menschen gehen mittlerweile nicht nur arbeiten um Geld zu verdienen. Sie wollen auch etwas Sinnvolles tun. Wenn es Unternehmen gelingt, diesen Sinn zu vermitteln, haben sie viel bessere Chancen, junge Menschen für ihr Team zu gewinnen. Häufig sind hier nicht kostenintensive oder große Schritte in Unternehmen notwendig, sondern die Vermittlung und Umsetzung eigener nachhaltiger Ziele und Ansprüche.
FW: Bei der Beratung von Wirtschaftsförderorganisationen versuchen wir in der Regel, ihren Blickwinkel zu weiten. Das heißt, bei der Suche nach innovativen Lösungen nicht nur allein durch die wirtschaftliche, sondern auch durch die soziale und ökologische Brille zu schauen. Alle drei Blickwinkel übereinandergelegt, eröffnet die Entdeckung neuer lokaler Innovationschancen. Es wird in der Regel immer noch vorrangig nach lokalen und international orientierten Unternehmern Ausschau gehalten, man zoomt ins Detail bei Clustern, scannt Startups, stärkt wirtschaftliche Innovationschancen. Was häufig fehlt, ist nach links und rechts zu schauen und das zu entdecken und zu fördern, was an Potenzial direkt vor der Nase liegt. Zum Beispiel Produktionsansätze in der Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Unternehmensmodelle, Förderung von innovativen Bürgerinitiativen in den Dörfern, soziales Unternehmertum, lokale Gemeinwohlinitiativen wie z.B. Repair-Cafes, Dorfläden, etc.. Bürger und andere Unternehmensformen wie Genossenschaften müssten mit ins Blickfeld gezogen werden. Innovation liegt meistens in den gesellschaftlichen Wandelprozessen. Was wir benötigen ist, den Blick- und Suchwinkel zu erweitern.
BN: Das sehe ich genauso. Wir suchen hier gerade selbst nach neuen Wegen. Wir wollen im Kreis Steinfurt ein Konzept zur Förderung von Social Entrepreneurship aufbauen, also soziale Unternehmensgründungen fördern, die nicht vorwiegend profitorientiert sind aber innovative soziale Innovationen und Dienstleistungen anbieten. Wir werden mit Schülern soziale Unternehmensideen entwickeln und sie damit für die Selbständigkeit sensibilisieren. Menschen sind zufrieden, wenn sie selbstbestimmt sind. Unser Hintergedanke ist dabei, die Gründungskultur im Kreis Steinfurt zu stärken, früh ins Handeln zu kommen und neue Chancen zu entdecken.
FW: Ich habe mir in meiner Heimat, einem kleinen eingemeindeten Dorf, immer gewünscht, dass die städtische Wirtschaftsförderung die Bürger dabei unterstützt, über ihre eigene Zukunft nachzudenken, Ideen zu entwickeln, Dorfkonferenzen mit Unternehmern und Bürgern zu moderieren, aufkommende innovative Ideen von kreativen Unternehmen und ehrenamtlichen Fachleuten zu unterstützen. Für mich ist es eine klare Aufgabe der lokalen Wirtschaftsförderung, diese Kräfte zu wecken und zu bündeln.
BN: Das sehe ich auch so. Wir müssen lernen etwas Einzigartiges aus dem zu machen, was uns an Ressourcen zur Verfügung steht: Wir müssen die lokalen Kräfte verbinden, mit neuen Verbindungen experimentieren, anderes ausprobieren, unsere bestehenden Netzwerke und Menschen einbeziehen. Wenn uns das gelingt, kommt eine ganz besondere Spezialität, etwas ganz Überraschendes und Kreatives dabei heraus. Der Prozess des Experimentierens und der Verbindung von verschiedenen Menschen macht letztlich das Lebendige und Besondere aus. Früher wurde „der Spaß an der Sache“ von vielen Wirtschaftsförderern eher in die „weiche gefühlige Ecke“ geschoben. Ich glaube, es ist die Grundvoraussetzung für unsere Arbeit, damit kreative Netzwerke entstehen. Es ist gerade dieses Klima, welches wir in unseren Kommunen und Kreisen benötigen und heben müssen.
FW: Das erfordert eine Experimentierfreudigkeit, weniger Sicherheitsdenken, die Lust darauf, ganz verschiedene Menschen, Bürger und auch Querdenker im eigentlichen Sinne kennenzulernen und in den Ideen- und lokalen Umsetzungsprozess von verschiedenen Innovationen einzubinden.
BN: Ich glaube, hier hat sich auch schon viel getan. Gerade die Zusammenarbeit mit Startups hat bei vielen jüngeren Wirtschaftsförderern neue Kommunikationsstile und Entdeckungslust geweckt. Wir müssen hier weiter „neu denken“, weiter neues ausprobieren. Denn es gibt viele Unternehmer, auch im Kreis Steinfurt, die offen dafür sind, mit kreativen Formaten neue transformative Ansätze auszuprobieren.
FW: Es geht uns auch um Beispiele von nachhaltigen Ansätzen in der Wirtschaftsförderung. Hast du hier Beispiele aus dem Kreis, die auch neue Zeichen setzen?
BN: Wir arbeiten gerade mit einem Unternehmen zusammen, dass sich in Saerbeck ansiedeln möchte, um Elektrolyseure zur Wasserstoffproduktion herzustellen. Das Unternehmen hat sich von 120 Standorten für Saerbeck entschieden, „weil hier sichtbar ist, dass sich der Ort schon früh selbst auf den Weg gemacht hat“, sagte mir der Unternehmer. Mit ihm entwickelten wir die Idee eines Accelerators für nachhaltige Unternehmensideen und verwirklichen diesen nun auch in Saerbeck. Beispiel zwei ist ein Landwirt, ebenfalls aus Saerbeck. Eigentlich ist er nicht ein Landwirt, sondern Unternehmer eines Systemhauses mit mehr als 50 Mitarbeitern. Er wandelte den ehemaligen Schweinemastbetrieb zu einem hocheffizienten und digitalisierten Gemüse-Biohof um. Letzteres hat Modellcharakter für andere Biohöfe. Wenn es dann darum geht, solche nachhaltigen und innovativen Beispiele groß zu machen, bin ich mit großem Spaß dabei.
FW: Wir sprechen vom Kreis Steinfurt als wirtschaftlicher Tausendfüßler, also viele Klein- und Mittelunternehmen mit ganz verschiedenen sektoralen Schwerpunkten. Wenn Du an diese Kreisrealität denkst, was muss passieren, damit der Kreis auch Modellcharakter für den neuen Weg gewinnt?
BN: Ich möchte den Kreis zum „Reallabor für transformative Entwicklung“ voranbringen, wo wir auf vielfältige Weise Zukunftsinnovationen fördern. Es würde uns die Chance bieten, uns mit Akteuren aus dem Kreis und darüber hinaus zu vernetzen, auch mit anderen Reallaboren und ähnlichen Vorhaben gemeinsam zu lernen und Neues nach vorne zu bringen. Aber das heißt auch, dass wir Befindlichkeiten und enge Zuständigkeiten überwinden müssen. Zu häufig ist jeder noch darauf aus, Aktivitäten allein auf sein Fleißkärtchen zu schreiben und damit seine Existenzberichtigung zu belegen. Wir müssen hier Ressortdenken überwinden und die Vernetzung als Erfolgskriterium unserer Arbeit nach vorne stellen.
FW: Eine letzte Abschlussfrage: Welche Frage hätte ich stellen sollen, die ich nicht gestellt habe, die aber beim Thema wesentlich ist?
BN: Letztlich hängt der Wandel immer von Menschen ab, die viele kleine Schritte gehen. Ich frage mich selbst immer noch, wie wir es hinkriegen, dass Menschen Lust daran haben, die Transformation voranzubringen. Wie wecken wir den Spaß an der Sache? Wie schaffen wir es Jung und Alt, Unternehmer, Bürger und lokale Experten in die Entwicklung vor Ort einzubeziehen? Dies sind Fragen, die ich mir stelle. Wir sollten hierzu live experimentieren, wenn wir das Reallabor im Kreis realisieren.
FW: Herzlichen Dank für das offene Gespräch.
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